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#2 Kodifizierte Selbstorganisation

      #2

Kodifizierte
Selbstorganisation


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Struktur & Prozesse

Purpose als dominante Entscheidungsprämisse zu betonen, macht noch keine Purpose Driven Organization. Auch die Struktur und Prozesse müssen Purpose Drive unterstützen. In bürokratischen Organisationen, die versuchen, jede Aufgabe mithilfe von detaillierten Programmen und fix geregelten Kommunikationswegen und Kompetenzen zu beherrschen, wird Sinnorientierung und Purpose Drive über kurz oder lang erlahmen – oder erst gar nicht zu finden sein.

Wo versucht wird, durch Ablaufoptimierungen, Prozesshandbücher und entsprechende IT-Systeme alles perfekt durchzuorganisieren, gibt es kaum noch Möglichkeiten, in der jeweiligen Situation sinnorientiert zu entscheiden. Das Streben nach der perfekt geölten Organisationsmaschine kann in volatilen und komplexen Zeiten und Umfeldern sogar gefährlich werden.
Wenn Kunden in immer kürzerer Folge mehr oder andere Produktvarianten fordern oder wenn Engpässe bei Rohstoffen überraschend auftauchen oder irgendetwas anderes nicht mehr so ist, wie es ursprünglich  geplant war, dann sind Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit gefragt.

Freiraum geben

Purpose kann hier helfen, um wieder Orientierung und Motivation zu schöpfen. Aber dazu ist eben auch ein hohes Maß an organisatorischer Anpassungsfähigkeit notwendig: Nicht fixe Abläufe und enge Strukturen, sondern Freiraum und Selbstorganisation, damit rasch auf geänderte Anforderungen, neue Möglichkeiten und andere Abweichungen reagiert werden kann.

Dabei ist weniger oft mehr. Viele etablierte Unternehmen haben in den letzten Jahren versucht, Prinzipien, nach denen Start-ups arbeiten, zu übernehmen, um mehr Flexibilität und Agilität zu erreichen. Nach dem Motto »bring Silicon Valley inside« wurden Learning Journeys ins Valley, nach London oder Berlin organisiert. Hunderte von Start-up-Unternehmen wurden besucht, befragt und analysiert, um die Erfolgsrezepte zu kopieren.

Start-Up Phase

Sichtbar wurde dabei meist, dass Unternehmen in ihrer Anfangsphase nur in geringem Maß feste Strukturen verankern. Nur wenige eindeutige Programme, festgeschriebene Ablaufpläne oder festgelegte Hierarchien der Entscheidungskompetenzen sind vorhanden. Routinen bilden sich erst heraus. Und auch auf die Regelung der Kommunikationswege wird weitgehend verzichtet, solange die Zahl der Mitarbeitenden noch so gering ist, dass jedes Mitglied mit jedem anderen problemlos kommunizieren kann.

Geringe Formalisierung bedeutet Teamarbeit. Alle packen mit an und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Wie man dabei vorgeht, sich organisiert und wer welche Aufgabe erledigt, wird von Fall zu Fall geklärt. Erst mit der Zeit und mit wachsender Größe bilden sich Routinen und Strukturen heraus.

Es braucht Struktur

Aber das zeigt eben auch, dass Organisationen auf Dauer nicht auf Strukturen verzichten können. Einerseits würde so der Organisationsvorteil, der durch Arbeitsteilung und fachliche Spezialisierung entstehen kann, verspielt. Daher ist eine Ausdifferenzierung von Rollen und Aufgaben erforderlich. Andererseits werden Entscheidungen, wenn es kaum andere Entscheidungsprämissen gibt, vor allem durch die Personen und deren persönliche Präferenzen, Eigenschaften, Entscheidungsmuster und Stimmungen geprägt. Zu Purpose-Orientierung wird das nicht in allen Fällen führen.

Und überraschenderweise kann eine zu geringe Formalisierung die Organisation auch verlangsamen. Wo laufend neu verhandelt und geklärt werden muss, wer was zu tun hat und welche Entscheidung treffen kann, geht allein dafür viel Zeit und Energie verloren. Purpose Driven Organizations verzichten daher keineswegs auf formale Rollen und Kommunikationswege, aber sie setzen dabei auf Autonomie und Selbstorganisation. Der Prozess des Organisierens ist wichtiger als sein Output, die Organisationsstruktur.

Organisationsprozess

»Organisationsprozess vor Struktur« heißt das Motto der Purpose Driven Organizations, denn in Kontexten hoher Volatilität und Vielfalt ist laufende Anpassung an Purpose und Möglichkeiten gefragt. Und wo laufend reorganisiert werden muss, kommt der Art und Weise, wie dies vonstattengeht, größere Bedeutung zu als den strukturellen Zwischenergebnissen.

Im Ergebnis wandert dabei der Fokus der Aufmerksamkeit von Strukturmodellen (z. B. Linien-, Matrix-, Projektorganisation) zum Prozess des Organisierens: Welche Art und Form der Organisationsplanung ist am sinnvollsten, um bestmöglich über Kommunikationswege und Rollendifferenzierungen zu entscheiden?

„Holacracy“ – Organisation in Kreisen – als ein Beispiel-Modell für kodifizierte Selbstorganisation

Vier Prinzipien

Dabei orientieren sich Purpose Driven Organizations primär an folgenden vier Prinzipien:

1. Autonomie und verteilte Autorität:
Kommunikationswege werden kurzgehalten, indem die Autorität zu entscheiden von höheren Hierarchieebenen in der Organisation verteilt wird, im Idealfall dorthin, wo der Bedarf zu entscheiden entsteht.

2. Hochfrequenzorganisieren:
Statt Strukturen einmal zu perfektionieren und dann alle paar Jahre anzupassen, wird Re-Organisation zum Tagesgeschäft: kontinuierlich, iterativ, inkrementell, mit Fokus auf »workable next steps«, um Spannungen zu lösen.

3. Kodifizierte Selbstorganisation:
Damit die Organisation dabei nicht im Chaos versinkt, werden Spielregeln für den kontinuierlichen Selbstorganisationsprozess festgeschrieben. Mitglieder und Teams sind weitgehend autonom und autorisiert, ihre Arbeit selbst zu strukturieren, aber der Ablauf, die Entscheidungsregeln und der Rahmen, in dem diese Entscheidungen getroffen werden, werden klar und rigide geregelt. 

4. Räume für informale Kommunikation:
Die starke Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die formale Seite der Organisation und die Aufgaben wird ausbalanciert durch zusätzliche Räume und Gelegenheiten für informalen Austausch über persönliche Bedürfnisse, Befindlichkeiten und Beziehungen.


Wenn Sie interessiert, wie man die zweite Disziplin konkret in Strukturen und Prozesse übersetzen kann, schauen Sie hier rein